Freitag, 2. Dezember 2011

Nebel.


Ich könnte jetzt nicht mehr sagen, welche Party es gewesen war, von der wir kamen. Mein bester Freund und ich. Es war ein kalter Abend, irgendwann spät im Jahr, im Winter, wahrscheinlich bereits in der Adventszeit, wenn die Tage dunkler sind als hell, kälter als warm, die Bäume kahl und die Schaufenster umso reicher geschmückt mit allem, was weihnachtlich und gemütlich ist. Licht hinter Glas. Ich könnte jetzt auch nicht mehr sagen, wie viel Uhr es war. Spät. Oder früh. Aber es war diese Zeit, zu der man denkt, dass man entweder schnell nach Hause geht, schnell und ohne Umwege, ins Bett und den Tag beschließt, der inzwischen ein neuer geworden ist, oder weitermacht bis er wirklich offensichtlich wird, der neue Tag, durch ein bisschen Licht und sparsames Vogelgezwitscher. Vielleicht.
Wir waren ein wenig betrunken. Ein wenig bedeutet in diesem Fall ‚deutlich‘. Wir waren zusammen gekommen und gingen zusammen, wie Freunde das tun.
„Wollen wir gehen?“
Einer von uns beiden hatte diese Frage gestellt und der andere hatte sie bejaht.
An Gehen war allerdings nicht zu denken, wie uns wenig später auffiel, nachdem die Haustür unseres Gastgebers hinter uns ins Schloss und wir ins Dunkel der Nacht gefallen waren, im wahrsten Sinne des Wortes, erschlagen von der frischen, kalten Luft und den Mischgetränken, die auf privaten Partys immer eine etwas größere Herausforderung darstellen als anderswo. Man muss ja sehen, wo man bleibt.
„Taxi?“ fragte einer von uns, und der andere bejahte.
Wir gingen bis zur nächsten Hauptstraße, wir schleppten uns gegenseitig, Arm über Schulter und um Taille, und redeten über das, was wir in den letzten Stunden mit- und ohne einander erlebt hatten. Unser Atem formte kegelförmige Wolken, die schmalste Stelle an unseren Lippen.
„Hast du die eine gesehen?“
„Welche?“
„Die mit den roten Jeans.“
„Die Blonde?“
„Ja.“
„Klar, hab ich gesehen. Was ist mit der?“
„Die war süß“, sagte mein bester Freund.
Und ich fand sie plötzlich weniger süß. Ich wusste auch nicht, wieso. 


Ich hatte sie uninteressant gefunden, in den wenigen Minuten, in denen ich ihr Aufmerksamkeit und einen Platz in meinen Gedanken geschenkt hatte. Uninteressant und gewöhnlich. Ein Mädchen in roten Hosen, mit blonden Haaren, wie viele gab es von denen? Zehntausende? „Ach ja?“ fragte ich, und das bedeutete nichts.
„Ja“, sagte mein bester Freund.
Ich hatte keine blonden Haare. Aber was tat das zur Sache? Ich hatte auch keine roten Jeans. Aber darüber machte ich mir keine Gedanken. Rote Jeans konnte man kaufen. Blonde Haare wahrscheinlich auch.

Ein Taxi hielt auf das Winken meines besten Freundes hin neben uns. Wir öffneten die hintere Tür und rutschten auf den Rücksitz. Ich zuerst, dann mein bester Freund. Er sagte, wo wir hinfahren wollten. Die grobe Richtung. Wir wohnten im gleichen Stadtteil, es war nur fair, einen Punkt zu wählen, der genau in der Mitte unserer beiden Wohnungen lag. Dann musste keiner von uns lang allein gehen und wir mussten uns nicht im Taxi verabschiedeten, das hassten wir, das hatten wir vor langer Zeit festgelegt: keine Verabschiedungen im Taxi mit verrenkten Umarmungen und einem ungeduldigen Taxifahrer und einer laufenden Uhr. Lieber ein bisschen zu Fuß gehen.
„Hast du dich mit ihr unterhalten?“ fragte ich ihn.
„Mit wem?“
Anscheinend hatte er das blonde Mädchen mit den roten Jeans schon vergessen. Sie beschäftigte mich mehr als ihn. Gut. „Na, mit dem Mädchen?“ Warum war das gut?
„Mit der roten Jeans?“
„Ja. Und den blonden Haaren.“
„Wir haben ein bisschen über Musik geredet. Den Job.“
„Was macht sie denn?“
„Weiß nicht, irgendwas mit Mode.“
„Ah. Deswegen.“
„Was?“
„Die rote Jeans.“
„Ist das in Mode?“
Ich hatte diese Bild im Kopf, ganz plötzlich, von roten Hosen, roten Ärschen, und musste lachen. „Bei Pavianen vielleicht.“
Mein bester Freund lachte auch.
Das Handy des Taxifahrers klingelte und er nahm ab, eine Hand am Lenkrad, die andere am Ohr, das Telefon zwischen Hand und Kopf. Wir hörten ihm ein bisschen zu. Am Telefon war wohl nicht seine Mutter, dazu war es zu spät, und auch nicht seine Frau oder Freundin, dafür war der Tonfall zu schroff. Er legte nicht auf. Er redete weiter und fuhr scharf um die Kurven, so dass man das Gefühl bekam, dass er wirklich nicht beides konnte, Telefonieren und Autofahren.
„Das ist voll gefährlich“, sagte ich zu meinem besten Freund.
„Das kann man nicht unterstützen“, gab er mir recht.
Als der Taxifahrer an der nächsten roten Ampel hielt, öffneten wir die Tür und stiegen aus. Der Fahrer lief uns nicht hinterher. Er rief auch nichts. Wir gingen in normalem Tempo, aber er folgte uns nicht. Vielleicht hatte er gar nicht bemerkt, dass er seine Fahrgäste verloren hatte.
„Dem ist das wohl egal“, stellte ich fest, als die Ampel auf Grün sprang und das Taxi weiterfuhr.
Mein bester Freund zuckte mit den Schultern und nahm meine Hand.

Am Rand unseres Stadtteils kamen wir an einem Supermarkt vorbei. Supermärkte waren auch in der Weihnachtszeit nachts nicht stark beleuchtet. Trotzdem sah ich das Fahrrad, das davor stand, mitten auf dem Gehweg, wie eine Falle.
„Guck mal“, sagte mein bester Freund.
Ich ging näher und sah mir das Rad genau an. „Es ist nicht abgeschlossen.“
„Dann gehört es dir“, sagte mein bester Freund.
Ich schüttelte den Kopf. „Quatsch, ich kann doch nicht einfach ein Fahrrad mitnehmen, dass ich finde, nur weil ich kann.“
„Doch.“ Er nickte voller Überzeugung. „Das ist die Regel.“
Ich überlegte kurz und dann klappte ich mit dem Fuß den Fahrradständer zurück und schob es an. „Na gut.“
„Der Einkaufswagen da ist auch nicht angeschlossen.“ Mein Freund zeigte auf einen einsamen Einkaufswagen, der am Rande der anderen Wagen stand. Die waren alle in Reih und Glied ineinander geschoben. Nur der eine eben nicht.
„Dann gehört er dir“, erklärte ich, das hatte ich schließlich eben gelernt. „Das ist die Regel.“
Mein bester Freund wehrte sich nicht und nahm den Einkaufswagen, eine Hand am Griff, die andere um meine Schulter, und schob uns beide, mich leise und den Wagen mit einigem Gepolter, dass ich nach einer Weile unangenehm fand. Mein Fahrrad machte nur leise, klackernde Geräusche, während ich es schob.
„Was ist denn so süß an ihr?“ fragte ich ihn.
„An dem Mädchen?“
„Ja.“
„Ihr Lächeln. Und ihr Lachen. Das klingt hübsch. Und sie lispelt ein bisschen, das ist niedlich.“
„Hast du ihre Telefonnummer?“
Er nahm seine Hand von meiner Schulter und mir wurde ein bisschen kalt. „Ja.“
„Und?“
„Ich ruf sie morgen an, glaube ich.“
Aber was, wenn es dann nichts zu lachen gab? Was war dann da noch? Eine dumme, rote Hose und ein gewöhnliches, blondes Mädchen mit einem Sprachfehler. So wenig ich über sie wusste, so sehr konnte ich sie nicht leiden.

An der Brücke trennen sich immer unsere Wege. An diesem Morgen war es auch so. Es wurde langsam hell, aber davon war nicht viel zu merken, es war nebelig, so nebelig, dass ich die nächste Brücke einige Meter den Kanal hinunter nicht erkennen konnte. Ich fröstelte. Mir war übel vom Alkohol. Ich lehnte das Fahrrad ans Brückengeländer, dort würde es bleiben. Es war mir lästig.
„Findest du, dass ich ein schönes Lächeln habe?“
Mein bester Freund sah mich amüsiert an. „Was?“
„Und ein schönes Lachen?“
„Ja. Aber warum fragst du das?“
„Nur so.“
Ich sah auf meine Schuhe, machte einen Schritt vorwärts auf ihn zu und umarmte ihn. Er umarmte mich zurück und so standen wir da, im Nebel. Und kein Vogel zwitscherte.
„Zeit, nach Hause zu gehen“, sagte er irgendwann.
Ich vergrub mein Gesicht in seinem Mantel. „Ich bin müde und betrunken“, erklärte ich ihm.
„Aber es war ein lustiger Abend, oder?“
Das war mir egal. Aber ich nickte trotzdem. Obwohl die Party egal gewesen war, nicht lustig. Scheiß Party. Mit diesen blonden Mädchen und den roten Hosen.
„Nächstes Wochenende wieder?“ fragte er, und ich nickte wieder.
„Ja. Nächstes Wochenende wieder.“
Er gab mir einen Kuss auf das Haar und ließ mich los. Ich ihn dann auch. „Schlaf gut.“
„Du auch“, sagte ich. Und dann: „Ich liebe dich.“
„Ich dich auch.“ Er klopfte mir auf die Schulter, und schob seinen Einkaufswagen unter lautem Poltern nach Hause.
Ich dich auch. Aber er meinte es nicht so wie ich.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen