Montag, 24. Oktober 2011

Stein.

Eine kleine Einleitung
Jeden Monat poste ich hier in meinem Blog eine Kurzgeschichte. Da dieser Monat, der Oktober, der Monat von Halloween ist, habe ich mir ein dazu passendes Special überlegt und versucht, zum ersten Mal in meinem Leben eine Gruselgeschichte zu schreiben. Ich hoffe, sie verfehlt ihre Wirkung nicht. Viel Spaß. Und Angst. Eure Käte.


 Meine älteste Cousine hatte mir irgendwann, als ich noch ein Kind war, erzählt, dass man um Mitternacht nicht in den Spiegel schauen sollte, denn dann zeigt er einem, wie man aussehen wird, wenn man stirbt. Mir war nicht wirklich klar, was daran so schrecklich sein sollte, aber die Art und Weise, in der sie mir davon berichtete, ließ mich den Entschluss fassen, niemals, unter keinen Umständen, um Mitternacht in einen Spiegel zu sehen. Und ich hielt mich daran. Einmal erschrak ich fast zu Tode, als ich (und es musste gegen Mitternacht gewesen sein) zufällig mein eigenes Ich als Reflexion in einer Fensterscheibe wahrnahm. Ich ärgerte mich, weil ich nie daran gedacht hatte, dass für Fensterscheiben eventuell dieselbe Regel galt wie für Spiegel. Und ich machte fortan um Mitternacht auch um diese einen großen Bogen.

Bis ich eines Nachts das hellgraue Gesicht vor meinem Fenster schweben sah. Die Uhr zeigte wenige Minuten nach Mitternacht. Ich hatte mich gerade zu Bett gelegt, da erblickte ich es.

Ich wusste nicht, was ich tun sollte, es starrte mich an, mit schwarzen, leeren Augen. Es sah nicht böse aus oder freundlich. Es sah aus wie eine Hülle. Das alles war mehr als unheimlich, zumal mir in diesem Moment bewusst wurde, dass ich das Gesicht kannte. Es gehörte meiner achtzigjährigen Nachbarin, Frau Stein, und es war äußerst ungewöhnlich, dass sie um diese Uhrzeit außer Haus war. Noch dazu vor meinem Fenster. Ich wohnte schließlich im vierten Stock.
Da es mir unangenehm war, so beobachtet zu werden, beschloss ich, einfach die Gardine vorzuziehen und damit dem ganzen ein Ende zu setzen. Ich kletterte aus meinem Bett und ging auf das Fenster zu. Und wenn ich gehofft hatte, dass Frau Stein jetzt verschwinden würde, hatte ich mich getäuscht. Sie blieb an Ort und Stelle. Das machte es mir möglich, einen genaueren Blick auf sie zu werfen. Ihre Augen waren in der Tat komplett schwarz, als wären ihre Pupillen ausgelaufen. Und sie schwebte, sie stand förmlich in der Luft, vor meinem Fenster im vierten Stock, da waren ihre nackten Füße und dann nichts. Ich sah die Reflexion meines eigenen Gesichts in der Scheibe neben ihrem und erkannte, dass es vor Schreck und Angst verzerrt war. Dabei spürte ich weder Schreck noch Angst. Erst als Frau Stein ihre Hand hob und ihre knochigen, zu Krallen verkrümmten Finger gegen die Scheibe legte, zog ich in einer ruckartigen Bewegung an der Gardine und eilte so schnell ich konnte zurück zu meinem Bett. Wo ich mich unter der Decke verkroch. Wie ein kleines Kind.

Am nächsten Morgen erwachte ich davon, dass die kalte Wintersonne mir ins Gesicht schien. Die Gardinen waren nicht vorgezogen. Ich entschied, dass das alles nur ein böser Traum gewesen war und war darüber sehr erleichtert.

Ich dachte den ganzen Tag lang nicht über meinen schlechten Traum nach. Dazu waren es schließlich schlechte Träume, dass sie einen, wenn die Nacht vorbei war, wieder verließen. Trotzdem hatte ich das Gefühl, dass etwas anders war, als würde eine Substanz in meinem Blut sein, die ihre Runden in meinem Körper zog und mich ausfüllte. Etwas anderes. Und je näher der Abend kam, desto mehr spürte ich diese Substanz und immer weniger mich selbst.
Die Wintersonne hatte sich schon lang verabschiedet und die Straßen waren stockfinster, als ich mein Haus erreichte und die Wohnungstür aufschloss. Das Klimpern meiner Schlüssel hallte im Treppenhaus wieder und da war noch ein anderes Geräusch. Ein Hecheln. Ich runzelte die Stirn und tastete zu meiner linken nach dem Lichtschalter. Ich fand ihn, legte ihn um und mir entfuhr ein kleiner Schrei, als in einem blitzschnellen Moment das Licht anging und ich mich Auge in Auge mit Frau Stein fand, ihre Nasenspitze berührte fast meine. Sie hielt eine Leine, an deren Ende ihr kleiner, schwarzer Hund in schnellen Zügen atmete. Die Zunge hing ihm dabei aus dem Mund.
„Entschuldigung“, flüsterte ich, ein Kontrast zu dem Schrei, der eben meinem Mund entwichen war.
Frau Stein trug einen unförmigen, bodenlangen  Mantel in Beige und einen Hut in derselben Farbe, der Schuld daran war, dass ich ihr nicht ins Gesicht sehen konnte, jetzt, da sie ihren Blick auf den Boden zu ihren Hund gerichtet hatte. Und das machte mich nervös. Denn ich hätte schwören können, dass ich, in diesem kurzen Moment als das Licht angegangen war, als ich Frau Stein in die Augen gesehen hatte, genau dasselbe festgestellt hatte, wie in der Nacht zuvor bei dem geisterhaften Gesicht an meinem Fenster: schwarze Leere. Ich war nicht besonders erpicht darauf, diesen Anblick noch einmal zu ertragen. Auf der anderen Seite wollte ich Gewissheit. Darüber, dass ich nicht verrückt geworden war, mir Dinge einbildete. Aber Frau Stein gewährte mir keinen weiteren Blick. Sie winkte ab und sagte: „Einen schönen Abend noch.“ Und ging.

Später konnte ich nicht sagen, wie ihre Stimme geklungen hatte. Und wunderte mich darüber, dass Frau Stein etwa so groß gewesen war, wie ich. Wenn sie mir doch sonst immer nur bis zur Schulter gereicht hatte.

Die Substanz in mir machte mein Blut kalt und je später der Abend wurde, desto mehr fröstelte ich und desto realer wurde mein schlechter Traum aus der vorigen Nacht. Ich hatte eigentlich nicht vorgehabt, das zu tun, weil es ein Eingeständnis war, weil es bedeutete, dass ich glaubte, dass es wirklich passiert war, dass Frau Stein vor meinem Fenster gewesen war… aber dann zog ich doch die Gardinen zu, bevor ich ins Bett ging. Aber ansonsten, versprach ich mir selbst, ansonsten würde ich mich wie eine Erwachsene verhalten. Das alles war nicht wirklich passiert. Also gab es auch nichts, wovor ich mich fürchten musste. Ich wiederholte diese Sätze wieder und wieder im Geiste, während ich in meinem Bett lag, in dem dunklen Zimmer, verzweifelt die Augen zukniff und darauf wartete, dass endlich der Schlaf kam und mich erlöste.
Absolut und komplett absurd, dachte ich. Der Schlaf hat mir doch überhaupt erst die bösen Träume gebracht.
Und während ich das dachte, hörte ich ein Geräusch und ich bemühte mich, etwas lauter zu denken, um das Geräusch zu übertönen, aber es war nicht von der Hand zu Weisen. In der Wohnung von Frau Stein, neben meinem Bett, kratzte etwas an der Wand. Langsam und mit viel Druck. Von oben nach unten. Und wieder. Ich hörte mir das einige Augenblicke lang an, weil ich hoffte, eine plausible Erklärung dafür finden zu können, aber ohne Erfolg. Die Substanz lähmte meinen Geist und meine Fantasie. Irgendwann hielt ich mir die Ohren zu, ich weiß nicht, wie lang, und wiegte meinen Kopf hin und her, weil mir sonst nichts Besseres einfiel. Als ich die Hände weg nahm, war es still. Endlich.
Ich atmete aus und drehte mich auf die Seite, weg von der Wand, hin zur Tür. Und in der Tür stand Frau Stein. In ihrem langen Mantel, mit dem passenden Hut. Ihre leeren, schwarzen Augen ruhten auf mir und ihre linke Hand, die Finger zu Krallen gekrümmt, kratzten über den Türrahmen, langsam und mit viel Druck. Von oben nach unten.
Eine einsame Träne der Angst floss mir über das Gesicht, als ich aus meinem Bett sprang, den Raum durchquerte und die Tür zuschlug. Es war mir egal, ob ich dabei Frau Steins Hand einklemmte, ich hatte sie nicht eingeladen. Dann schaltete ich das Licht an und ließ es brennen, als ich mir die Decke über den Kopf zog und mich in meiner Höhle einkringelte, wie ein Kind. Oder ein Wurm.

Am nächsten Morgen wachte ich mit Kopfschmerzen auf. Die Gardine war nicht vorgezogen und das Licht ausgeschaltete. Ich wusste nicht, was ich denken sollte.

Krähen schrien und die kahlen Bäume reckten ihre toten Äste in den neblig-grauen Nachmittagshimmel und ich beeilte mich, nach Hause zu kommen. Ich wollte einschlafen, bevor es dunkel wurde, und hatte mir dafür in der Apotheke ein Mittel besorgt, denn ohne Hilfe würde ich kein Auge zubekommen, das wusste ich. Mit steifen Fingern schob ich den Schlüssel ins Haustürschloss. Es war nicht besonders kalt. Ich hatte lediglich das Gefühl, von innen zu versteinern. Lediglich. Als wäre das eine Kleinigkeit.
Ich schleppte mich die Treppenstufen hinauf bis in den vierten Stock und konnte mich nicht daran erinnern, das jemals als so anstrengend empfunden zu haben. Ich brauchte fast 15 Minuten für die vier Stockwerke. Wahrscheinlich liegt es an dem Schlafmangel der letzten Nächte, versuchte ich mich zu beruhigen. Als ich an Frau Steins Wohnungstür vorbeiging, nahm ich einen süßlichen Geruch war, von dem mir übel wurde, und ich musste einen Moment stehen bleiben, und mich fangen. Auf Höhe ihres Türspions hing ein staubiger Kranz aus Kunstblumen. Ich schluckte schwer und überlegte, ob ich klingeln sollte. Vielleicht war es keine schlechte Idee, ihr von den bösen Träumen zu erzählen, damit sie beide die Möglichkeit hatten, darüber zu lachen. Über den ganzen Quatsch. Aber jetzt war ein schlechter Zeitpunkt, jetzt war mir übel und meine Knochen waren so schwer, als wären sie aus, ja, Stein. Also schleppte ich mich eine Tür weiter, betrat meine Wohnung, nahm zwei Tabletten aus der Packung, die der Apotheker mir gegeben hatte, und ließ mich mit letzter Kraft ins Bett fallen.

Ich war wie gelähmt, als ich einige Stunden später in meinem dunklen Schlafzimmer aufwachte. Ich öffnete meine Augen, aber der Rest meines Körpers gehorchte mir nicht, meine Beine, meine Arme, mein Kopf, alles blieb bewegungslos, egal wie laut mein Gehirn nach Bewegung verlangte. Ich war vollständig bekleidet und machte mir Sorgen. Was, wenn ich die Tabletten nicht vertragen habe, dachte ich, eine Überdosis, was, wenn ich gelähmt bin, vielleicht sind meine Nerven kaputt gegangen. Ich versuchte mit dem kleinen Zeh zu wackeln. Das klappte nicht. Ich spannte meinen Rücken an, aber der machte kein Hohlkreuz. Ich versuchte, meine rechte Hand zu einer Faust zu ballen und plötzlich fiel mir auf, wie kalt sie sich anfühlte. Als hielte sie einen Eiswürfel. Ich bewegte meine Augen in dem versteinerten Schädel so weit nach rechts, wie es mir möglich war, um zu sehen, was der Grund dafür war. Und erkannte eine knochige, hellgrau leuchtende Hand in meiner. Und veränderte mein Sichtfeld wieder ein wenig und sah in die schwarzen, leeren Augen von Frau Stein. Sie lag neben mir im Bett. Sie trug ihren Mantel. Und lächelte.
Ich weiß nicht wie, aber ich schrie.
Und als ich fertig war, war Frau Stein verschwunden und ich wieder in der Lage dazu, mich zu bewegen.
„Genug“, rief ich, erhob mich aus dem Bett, stürmte aus meiner Wohnung nach nebenan und klingelte Sturm. Die Uhr zeigte eine Minute vor Mitternacht.

In dem kleinen Spiegel in Frau Steins Flur sah ich mich. Die schwarzen, tiefen Augenränder, die eingefallenen Wangen, die strähnigen Haare. Irgendwo in einem der hinteren Zimmer, vermutlich dem Wohnzimmer, schlug eine Standuhr zwölf Mal. Frau Stein lag auf dem Boden, ihr alter, toter Körper verkrümmt und steif. Wer wusste schon, wie lang sie dort bereits gelegen hatte bevor ich gekommen war. Die Tür hatte ich einfach aufstoßen können. Jetzt stand ich hier. Und die Uhr schlug. Ich sah mein Spiegelbild und musterte es erleichtert.
„Also stimmt es nicht, was die Cousine gesagt hat. Schließlich lebe ich noch.“
Frau Steins Hund hechelte neben seinem Frauchen. Und als ich mich zu ihm umdrehte, sah sie mich an, mit leeren, schwarzen Augen, und einem zufriedenen Lächeln auf den kalten, blauen Lippen.
„Noch“, sagte sie.

Und ich hätte nicht sagen können, wie ihre Stimme klang…




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