Montag, 26. September 2011

Hellblau.


Der Zettel fiel mir auf, als ich an der Ampel neben der Bushaltestelle wartete, auf dem Weg nach Hause, nach einem langen Arbeitstag. Wobei es Sommer war, die Jahreszeit in der lange Arbeitstage nie wirklich lang erscheinen, selten so lang wie ein kurzer Arbeitstag im Winter, zum Beispiel. Das hat etwas mit dem Licht zu tun, dem Sonnenschein, der einen erwartet, wenn man das Büro verlässt, einen sozusagen an der Tür abholt, wie damals Mutter von der Schule – als man sich noch darüber freute, wenn sie das tat, vorausgesetzt. Das hört ja auch irgendwann auf.

Der Zettel jedenfalls war mit vier Streifen Klebeband an dem Ampelpfeiler angebracht. Ich hätte ihn nicht einmal bemerkt, wäre nicht just in dem Moment, als ich aus dem Bus sprang und die Straße überqueren wollte die Grünphase vorbeigegangen  und die Autos wieder angefahren. So aber hatte ich nichts Besseres zu tun und als moderner Mensch, dem extrem schnell langweilig wird, wenn nicht alle halbe Minute etwas passiert (es muss nicht spannend sein, es muss nur passieren), fing ich an, ihn zu lesen.

In der Gegend, in der ich wohne, kleben die Leute eigentlich nur eine Sorte von Zetteln an Ampelpfeiler: „Junges Akademikerpaar, er Anwalt, sie Wirtschaftsprüferin, Nichtraucher, keine Kinder, suchen eine 3 bis 4-Zimmer-Wohnung, möglichst mit Balkon, VB, Dielenfußboden. Belohnung…“ und so weiter. Es ist schon eine traurige Welt, in der man nur dann eine schöne Wohnung mit Vollbad und Balkon anmieten darf, wenn man sich über Jahre in unzähligen Wirtschaftsseminaren zu Tode gelangweilt und erfolgreich gegen das Kinderkriegen gewehrt hat. ‚Ist es das wert?‘ muss man da fragen. Und ich sage: nein! Aber das tut hier und jetzt nichts zur Sache, denn hier und jetzt geht es um diesen einen besonderen Zettel, auf dem etwas ganz anderes stand. Nämlich:


„Am 8.Juli um 18.15 Uhr hast du an dieser Bushaltestelle auf den 5-er Bus gewartet. Ich stand auf der anderen Straßenseite und habe auch auf den 5-er Bus gewartet, allerdings in die andere Richtung. Ich habe ein kariertes Hems getragen, du hattest ein türkises T-Shirt an. Irgendwann hast du zu mir herübergesehen und gelächelt. Und ich konnte nicht mehr wegsehen, bis dein Bus kam. Dann warst du weg. Ich will dich unbedingt wiedersehen. Am 26.Juli um 18.15 Uhr, okay?“
Aufgeregt überflog ich den Text noch dreimal bevor die Ampel schließlich wieder auf grün sprang. Was auch keinen Unterschied machte, ich blieb trotzdem wie angewurzelt stehen. Und rechnete fieberhaft mit Hilfe des schwer greifbaren und etwas unzuverlässigen Kalenders in meinem Kopf (Basisfunktion eines modernen Menschen) zurück. Heute war der 13.Juli. Das heißt, der Zettelschreiber hatte vor genau fünf Tagen, am Freitag, auf der anderen Straßenseite gestanden und sich in ein Mädchen verliebt. Und… und jetzt wurde es spannend… die Chance bestand, dass ich diese Mädchen war. Ja. Ich. Eine schnelle Analyse meiner Nahverkehrsreisegewohnheiten und der Kleidungsstücke in meinem Schrank in Zusammenhang mit der aktuellen Wetterlage ließen mich zu folgendem Schluss kommen: es war durchaus möglich.

Ich besaß zwar kein einziges türkisfarbenes T-Shirt, aber wenn ich mich nicht stark irrte, hatte ich am vergangenen Freitag ein hellblaues Tanktop getragen und Männer sind ja bekanntlich nicht besonders gut wenn es um Farbdetails geht. Oder Schnitte. Natürlich, wenn das auf den Mann im karierten Hemd auch zutraf, war es verwunderlich, dass er so eine differenzierte Farbbeschreibung wie ‚Türkis‘ anbrachte, aber das war ein zu vernachlässigender Einwand. Von solchen Kleinigkeiten durfte der Lauf dieser romantischen Geschichte nicht beeinflusst werden. Und auch die Tatsache, dass ich am 8. Juli um Viertel nach sechs mit großer Wahrscheinlichkeit aus dem Bus ausgestiegen und nicht auf ihn gewartet hatte, hatte nichts zu bedeuten. Vielleicht hatte ich ja, wie auch jetzt, an der Ampel gestanden und auf Grün gewartet. Und er hatte das falsch gedeutet. Ärgerlich war, dass ich mich leider, egal wie sehr ich mich anstrengte, nicht daran erinnern konnte, jemals einen Mann im karierten Hemd auf der gegenüberliegenden Straßenseite angelächelt zu haben. Aber vielleicht war das ja ganz unbewusst und beiläufig passiert, ich war ja schließlich ein freundlicher Mensch, manchmal lächelte ich einfach so, ohne Grund, weil das doch die Welt zu einem schöneren Ort machte. Angeblich.

„Ich wünschte, ich wüsste, wie er aussah“, flüsterte ich, ergriffen von dieser Geschichte und davon, dass sie mir passierte. Mir. Endlich einmal spielte ich nicht die Nebenrolle, die für die Lacher zuständig war. Oder den Erzähler. Oder irgendeinen Statisten. Dieses Mal hatte ich die weibliche Hauptrolle ergattert.
„Naja, also ich würde mal sagen, er hatte ein kariertes Hemd an.“ Die Bäckereifachangestellte stützte sich auf dem Tresen hinter der Auslage mit den süßen Teilchen ab und verdrehte die Augen. Sie war merklich genervt. Und irritiert. Davon, dass eine wildfremde Person unter dem Vorwand ein Laugenbrötchen kaufen zu wollen in ihren Laden kam und ihr dann ihre Lebensgeschichte erzählte. Die Lebensgeschichte seit gestern Abend jedenfalls. Aber es war doch nicht meine Schuld, dass ich an nichts anderes mehr denken konnte.
Ich tat also so, als würde ich ihren Missmut nicht bemerken und nickte animiert. „Ja, aber was für ein kariertes Hemd? Da gibt es ja diverse Ausführungen. Ist er mehr so der modische Typ, glattrasiert und stylisch? Trägt er teure Turnschuhe? Oder trägt er das Hemd in Erinnerung an Kurt Cobain? Vielleicht macht er ja selbst Musik. Das fänd ich gut…“
„Wollen Sie jetzt diese Laugenbrötchen, oder nicht?“
„Vielleicht ist er ja ein Holzfäller. Oder, nein, Landschaftsarchitekt. Wahrscheinlich hat er einen Vollbart. Ich mag Bärte. Sie auch?“
Die Bäckereifachangestellte verzog den Mund und stemmte die Hände in die Seite. „Nicht besonders.“
Ich seufzte. „Wenn er keinen Bart hat, ist es auch nicht schlimm. Ich meine, ich werde ihn ja nicht ohne Grund angelächelt haben.“
Das Laugenbrötchen verschwand in einer Papiertüte, die raschelte, als die Frau auf der anderen Seite des Tresens sie zusammenknüllte und mir hinhielt. „Vielleicht sind ja auch gar nicht Sie gemeint.“
Ich schnappte empört nach Luft. Diese Möglichkeit hatte ich bereits zu hundert Prozent ausgeschlossen.
„Das macht dann 75 Cent.“
Ich zählte das Geld aus meinem Portemonnaie und gab es ihr in die Hand. „Das werden wir ja sehen.“ Dann nahm ich die Tüte Brötchen und machte mich auf den Weg zur Bushaltestelle. Auf den Weg zur Arbeit.  Noch 12 Tage bis zum Tag der Wahrheit.

Ich hatte wieder das hellblaue Tanktop angezogen, aus Gründen der Wiedererkennung, das erschien mir clever. Und ich hatte mich unter einem Vorwand früher aus dem Büro geschlichen, damit ich auch bloß nicht zu spät kam zu meinem schicksalshaften Blind-Date an der Bushaltestelle. Letztendlich war ich zwanzig Minuten zu früh dort, um fünf Minuten vor sechs. Genug Zeit, um in Gedanken zu schwelgen an das, was jetzt kommen würde. Wie es sein würde, wenn er dort auf der anderen Straßenseite erscheinen würde, in einem karierten Hemd, voller freudiger Erwartung. Unsere Blicke würden sich treffen und ich würde ihm vielleicht zuwinken, etwas schüchtern, und darauf warten, dass er mein Winken erwiderte. Dann würden wir spazieren gehen und vielleicht irgendwo etwas essen oder auch nur einen Drink nehmen. Und uns versprechen, uns bald wieder zu sehen, weil es noch so viel zu bereden gab, weil wir so viel gemeinsam hatten. Er würde mir zum Abschied über die Wange streichen und so etwas sagen wie: „Ich bin so froh, dass du gekommen bist.“ Er würde atemberaubend aussehen. Sein kariertes Hemd würde gut riechen. Wir würden wissen, dass es das ist. Das, was wir beide gesucht haben. Und wir würden es behalten. Und später, wenn wir alt und grau waren, würden wir uns immer wieder die Geschichte erzählen, wie wir uns gefunden hatten, mit Hilfe eines kleinen Zettels mit vier Klebestreifen an einem Ampelpfeiler.
Ich lehnte mich an die kühle Glasrückwand der Bushaltestelle und schwebte glückselig durch meinen kleinen Tagtraum, der in wenigen Minuten wahr werden würde. Ein Blick auf die Uhr. Zehn Minuten nach sechs. Jetzt war es gleich so weit.
Aber was, wenn er nicht kam? Wenn er so aufgeregt war wie ich, wenn er sich so auf dieses Wiedersehen freute wie ich es tat, müsste er dann nicht schon längst hier sein? Hatte er mich vergessen? Hatte er jemand anderes kennengelernt? War er auf dem Weg hierher womöglich überfahren oder von einem Hund angefallen worden? Nicht auszudenken!
Nervös scannte ich die Bushaltestelle auf der anderen Seite. Kein kariertes Hemd in Sicht. Er war noch nicht da. Oder er war da, aber er war nicht geistesgegenwärtig genug gewesen, sich dieses Hemd anzuziehen. Verdammt. Wie sollte ich ihn dann erkennen? Und wenn ich ihn nicht erkannte, nicht auf ihn reagierte, deutete er das vielleicht als Zurückweisung und ging wieder. Ich bis mir auf die Unterlippe. Das durfte nicht passieren. Ich stand auf und stellte mich direkt an die Straße, damit ich ihm sofort auffiel. Um Bereitschaft zu demonstrieren.

Nach und nach sammelten sich mehr Leute an meiner Bushaltestelle, die alle wirklich auf den Bus warteten, den 5-er. Ich bemühte mich darum, weiterhin eine von gegenüber gut sichtbare Position zu besetzen und drängelte mich an einer Frau mit Kinderwagen und einem alten Mann vorbei, der mich daraufhin ärgerlich zurechtwies. Ich war gerade dabei, ihm zu sagen, dass es mir leid tat, ihn geschubst zu haben, als ich eine weitere Person anrempelte, völlig aus Versehen. Und als ich mich umdrehte um mich ein weiteres Mal zu entschuldigen, stand ich direkt vor der Bäckereifachangestellten. Der mit dem Laugenbrötchen. Und ich konnte nichts sagen, mir stand einfach nur der Mund offen, denn… sie trug ein T-Shirt und es war türkis.
„Ich nehm hier jeden Tag um Viertel nach sechs den Bus“, erklärte sie. „Das hier ist mein Liebslings-T-shirt. Ich trage es fast immer.“
Mein Mund war plötzlich so trocken, dass meine Zunge am Gaumen klebte. „Das ist nicht fair“, zischte ich. „Wenn ich Ihnen
Sie zuckte mit den Schultern. „Wahrscheinlich hat er sowieso mich gemeint.“ Sie reckte den Hals, um die andere Straßenseite besser sehen zu können. „Ist er schon da?“
„Und wenn er es wäre, würde ich es Ihnen nicht sagen.“ Ich drängelte sie ein bisschen zur Seite und stellte mich vor ihr auf, auf dem Kantstein, und fast hätte mich der 5-er Bus erwischt, der in diesem Moment mit lautem Hupen in die Haltebucht fuhr.
„Sind sie von allen guten Geistern verlassen?!“ motzte mich der Busfahrer durch die offene Tür an, und die Bäckereifachangestellte lachte leise. Sie lachte mich aus. Die blöde Schnepfe.
Ich verzichtete darauf, das irgendwie zu kommentieren und wartete still, bis der Bus wieder anfuhr und die Sicht frei war.

Und da stand er.

Meine Reaktion war nüchtern. Meine Hand dachte gar nicht daran, zu winken. Mein Mund wollte nicht lächeln. „Ich hab ihn mir irgendwie anders vorgestellt“, war alle, was ich heraus brachte.
Die Bäckereifachangestellte warf mir einen Blick zu und schluckte hörbar.
Der Mann im karierten Hemd war ungefähr fünfzig, klein und untersetzt und hatte keinen Bart. Und auch sonst kaum Haare. Nur einen Haarkranz. In der Hand hielt er einen Tankstellenblumenstrauß und er winkte. In unsere Richtung.
Man soll ja Menschen nicht nach ihrem Äußeren beurteilen, ich weiß. Aber zwischen diesem Mann dort und dem, was ich mir vorgestellt und erträumt hatte, gab es keine Schnittstelle. Keine einzige.
„Bei genauerer Betrachtung ist Hellblau eine ganz andere Farbe als Türkis.“
Ich trat einen Schritt zurück, weg von der Seite der Bäckereifachangestellten und stellte erleichtert fest, dass der Mann ihr weiterhin all seine Aufmerksamkeit schenkte und Anstalten machte, die Straße zu überqueren.
Ich tat es ihm gleich. In die andere Richtung. Und als wir aneinander vorbei gingen, seine Schulter fast meine berührte (die Schulter des Mannes von dem ich bis um Viertel nach sechs noch geglaubt hatte, dass er vielleicht der meines Lebens sein könnte) fragte ich mich, ob Romantik im Alltag wirklich nicht passierte. Ob solche Geschichten wie die, von der ich dachte, dass ich mich mitten in ihr befand, wirklich nur in Träumen funktionierten. Und ich dachte: Vielleicht. Vielleicht aber auch nicht. Eventuell ging es auch um etwas anderes. Zu große Erwartungen. Und Oberflächlichkeit.

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