Montag, 1. August 2011

Einlagen.


Als das mit den Knieschmerzen losging, dachte ich, jetzt ist es soweit. Ich bin alt. Ich habe Knieprobleme. Irgendwann machen die Gelenke nicht mehr mit, erst der Rücken, dann die Gelenke. Knie. Und dann irgendwann kommen Rheuma und Gicht dazu. So schnell. Und das, bevor ich es fertig gebracht hatte, den Mann meines Lebens zu finden, zu heiraten und seine Kinder auszutragen.  Wenn es dann soweit war, wie würde ich vor den Altar treten? An Krücken? Um Himmels Willen!

Ich ging also zum Arzt, um diese Negativentwicklung aufzuhalten. Heutzutage kann die Medizin ja so manche Wunder vollbringen, da darf man die Flinte nicht zu früh ins Korn werfen, wozu gibt es schließlich Forschung und Pharmaindustrie?
Mein Arzt hörte mir aufmerksam zu, während ich ihm mein Leid klagte, und bat mich im Anschluss daran, Fußabdrücke auf Papiertüchern zu hinterlassen. Ich war ein wenig enttäuscht. Was hatten Fußabdrücke auf Papiertüchern mit Forschung zu tun? Aber ich beschwerte mich nicht, ich trat nur fest auf.
Und mein Arzt sah sich das Ergebnis an und brummte: „Hm.“
„Was ist es, Herr Doktor?“ fragte ich besorgt.



„Senkfuß, Spreizfuß.“
„Oh Gott!“ Ich hatte selten etwas so Unattraktives gehört. Ab jetzt war die Frage nicht mehr, wie ich den Weg zum Altar zurücklegen würde, sondern ob. Jemals. Ich war gebrandmarkt. Mit meinen Senkspreizfüßen für immer entstellt.
„Das kommt oft vor.“
Unattraktiv und dabei nicht einmal etwas Besonderes. „Und jetzt.“
„Einlagen.“
Herrlich. Und dazu vielleicht noch ein Paar Stützstrumpfhosen?

Der Mann, der die orthopädischen Einlagen anpasste und zusammenbastelte, hockte vor mir auf dem Boden in seinem kleinen, nach Schuhpolitur riechendem Laden, nahm meine Fuß-Maße und entfachte mein schlechtes Gewissen, weil es mir unangenehm war, dass ein Mann in seinem Alter sich vor mir bückte. Er war weit über sechzig. Was, wenn er sich bei dem Versuch, aufzustehen, etwas brach? Wenn ich schon Knieprobleme hatte, wollte ich nicht wissen, wie schlimm es um ihn stand. Vielleicht war die Rheuma/Gicht-Phase schon erreicht. Aber dieses Mal ging es noch gut. Ächzend zog er sich schließlich an dem Wartestuhl hoch, auf dem ich vorher gesessen hatte, und wischte sich eine sehr einsame Haarsträhne aus dem Gesicht.
„Geht’s?“ fragte ich hilflos.
Entweder hatte er das nicht gehört oder er wollte es mir nicht sagen, eine Antwort blieb jedenfalls aus. Er fasste sich lediglich an den Rücken und griff mit der anderen Hand nach seinem Notizblock, der auf dem Bedientresen hinter ihm lag. „Für welche Schuhe sollen die Einlagen denn sein?“
„Wie? Für welche?“
„Welche Schuhe tragen sie gewöhnlich?“
Ich sah ihn ungewollt entgeistert an. „Immer andere?“
Wir standen uns gegenüber und starrten uns an. Zwei Generationen, zwei Geschlechter, zwei Menschen mit einer komplett unterschiedlichen Auffassung davon, wie viele Paar Schuhe man brauchte. Er hob fragend die Augenbrauen. Ich sah nachdenklich an meinen Beinen herunter, an deren Ende meine Füße in einem Paar flacher Ballerinas steckten.
Ich nickte in ihre Richtung: „Solche.“
Er zog wieder die Augenbrauen hoch, dieses Mal sah er ungläubig aus, und murmelte etwas, das so klang wie „Kein Wunder, dass Ihre Füße hinüber sind.“
„Wie bitte?“ fragte ich.
„In zwei Wochen können Sie die Einlagen abholen“, sagte er, und reichte mir einen kleinen, grünen Zettel.

Zwei Wochen übertriebenes Humpeln später saß ich wieder in dem Geschäft und sog die Schuhcremeausdünstungen ein bis mir schwindelig wurde. Neben mir, auf dem zweiten Besucherstuhl, wartete ein älterer Herr, etwa in dem Alter des orthopädischen Einlagenmachers. Er trug vernünftige, klobige Sandalen, die ich nicht für Geld jemals angezogen hätte, und sah vergnügt aus, sein weißes Haar war dicht und seine Beine lang, er wirkte ‚agil‘, so nannte man das ja meistens, wenn Menschen den Eindruck machen, problemlos eine Runde um die Alster spazieren zu können, ohne danach direkt ins Sauerstoffzelt oder die Notfallambulanz zu müssen. Er ließ seine großen Zehen wackeln und betrachtete mich so lange ganz offen von der Seite, bis ich nicht anders konnte als ihn ebenfalls direkt anzusehen. Auch wenn ich das eigentlich nicht so gern tat. Ich war in einem Umfeld urbaner Anonymität groß geworden und anonym hielt ich es gern, zumindest wenn ich meine orthopädischen Einlagen abholen wollte.
„Guten Tag!“ Er zog einen imaginären Hut.
„Hallo.“ Ich lächelte unsicher.
„Ich bin 74 Jahre alt.“
So eröffnete man also Unterhaltungen jenseits der dreißig. Ich nickte. „Da haben Sie sich gut gehalten.“
Er lachte. „Da bekommt man jahrelang kein einziges Kompliment und dann gleich eines von einer hübschen, jungen Dame.“
Ich war mir sicher, er kokettierte nur. Jemand der so kontaktfreudig war und über derartig volles Haupthaar verfügte, bekam sicherlich öfter Komplimente. Vielleicht nicht jeden Tag. Aber das ging mir ja nicht anders.
Der Mann faltete seine Hände im Schoß. „Ein guter Tag.“
„Nur deswegen?“
„Was heißt ‚nur‘? Das ist doch schon was, ein Kompliment.“
„Ja. Das kann sein.“
„Manchmal rede ich tagelang mit niemandem. Dann bleibe ich zu Hause und schreibe.“
Ich war froh, ein echtes Thema zu haben, über das ich mit ihm reden konnte. Weg von dieser Kompliment-Sache. „Sind sie Schriftsteller?“
„Hobbyschreiber. Ich habe immer schon geschrieben. Kurzgeschichten.“
„Worüber?“
„Meine Frau.“ Seine Augen veränderten sich in diesem Moment. Obwohl sein Mund noch lächelte und auch die kleinen Fältchen in seinen Augenwinkeln blieben, wo sie waren. Aber seine Augen leerten sich. Wie eine Badewanne, in der man den Stöpsel zog. Wie eine Maschine, die langsam zum Stillstand kam. „Sie ist leider nicht mehr da.“ Ich suchte noch nach Worten des Bedauerns, da fuhr er fort: „Sie war wunderbar. Sie war der unordentlichste Mensch, den man sich vorstellen kann. Überall lagen Ihre Schuhe herum. Ich habe nie verstanden, wozu ein einzelner Mensch so viele Schuhe braucht.“ Das echte Lächeln kam mit der Erinnerung zurück. „Sie konnte auch nicht kochen. Überhaupt, Hausarbeit, da war Sie schlecht drin. Aber dafür konnte sie auf einem Finger pfeifen. Und sie konnte wunderschön tanzen.“
„Tanzen macht ja auch viel mehr Spaß als Hausarbeit.“
„Das hat sie auch immer gesagt.“ Er lachte wieder. „Sie sind da offensichtlich auf einer Wellenlänge. Die Geschichten würden Ihnen bestimmt Spaß machen.“
„Bestimmt.“
Seine Augen blitzten, als ihm eine Idee kam. „Ich schicke sie Ihnen. Wie ist ihre Adresse?“ Erwartungsvoll sah er mich an und zog schon ein kleines Notizheftchen aus seiner Jackett-Tasche, als ich noch überlegte, ob es schlau war, einfach seine Adresse an ältere Herren weiterzugeben, die man beim orthopädischen Einlagenschuster traf. Ich kam aber zu dem Schluss, dass, obwohl er agil war und tolle Haare für sein Alter hatte, ich wohl nichts vor ihm zu befürchten hatte. Er war offensichtlich nicht gut zu Fuß, im Notfall konnte ich jederzeit vor ihm wegrennen. Also gab ich ihm meine Adresse. Und vergaß die ganze Geschichte noch bevor der Tag vorüber war. Ein typisches Symptom des urbanen Lebens.

Der Manila-Umschlag lag eine Woche später in meinem Briefkasten. Er war schwer. Darin warteten eine Grußkarte und an die zweihundert DIN-A4-Seiten darauf, von mir gelesen zu werden. Ich schob das eine Weile vor mir her. Die Masse schreckte mich ab. Aber an einem verregneten Sonntag, einige Monate später, als ich die Ballerinas gegen Stiefeletten getauscht hatte, setzte ich mich auf mein Sofa und begann zu lesen. ‚Muck und die Schuhe‘, ‚Muck und die Bootsfahrt‘, ‚Muck und der kleine Hund‘. All diese Geschichten einer Liebe, die wirklich tief gewesen sein musste. Wo andere den Fotoapparat herausholten und den schönen Moment in einem Schnappschuss festhielten, hatte der alte Mann jedes kleine Detail, jede Bewegung, jedes Lächeln der Frau die er liebte in einfachen Worten und kurzen Sätzen auf jetzt vergilbtem Papier festgehalten, mit einer Schreibmaschine getippt, deren Tinte über die Jahre verblasst war. Ich fühlte mich privilegiert, weil ich ihre Geschichten lesen durfte, weil ich hautnah dabei sein durfte, wie ein Mensch sich jeden Tag ein kleines Bisschen mehr in einen anderen verliebte. Bis der Seitenberg abgetragen war und es nichts mehr zu lesen gab. Ich wusste, warum das so war. Und es fühlte sich an als würde das gute Gefühl aus mir herausfließen, wie aus einer Badewanne, wie damals aus seinen Augen. Wenn man weiß, dass man jemanden liebt, und das für immer, ich weiß nicht, wie es ist, wenn man diesen Menschen verliert. Aber wenn man Ersteres erfahren will, muss man Letzteres wohl in Kauf nehmen. Eventuell sind Rheuma und Gicht nicht die schlimmsten Schmerzen mit denen man sich im Alter herumschlägt.

Ich wollte dem Mann immer eine Postkarte schicken und mich bei ihm für die Geschichten bedanken. Ich schiebe es auf das urbane Leben, dass ich es nie getan habe. Meine Einlagen habe ich eine Weile getragen, dann war ich zu faul, sie von einem Paar Schuhe ins Nächste zu wechseln. Aber meinem Knie geht  esohnehin wieder besser, danke der Nachfrage. Weniger körperliche Gebrechen, mehr Zeit, die große Liebe zu finden. Und so lang wie möglich daran festzuhalten und jeden guten Moment festzuhalten. In welcher Form auch immer.

3 Kommentare:

  1. Sieht klasse aus, aber die Schrift ist zu klein, oder?

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  2. ganz richtig. aber hab keine angst. das problem ist in arbeit...

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  3. also... die lösung des problems natürlich.

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